Oft heißt es, der erste Eindruck ist der entscheidende. In wenigen Sekunden sei alles klar.
Stimmt das?
Oder gibt es für den ersten Eindruck eine zweite Chance?
Natürlich willst du einen guten ersten Eindruck hinterlassen, gerade in Situationen, die dir besonders bedeutsam erscheinen. Ein neuer Job, ein wichtiger Kunde – schon steht eine Menge auf dem Spiel.
Wir hoffen in solchen Situationen darauf, dass der erste Eindruck ein guter ist. Wenn unser Gegenüber uns aber sofort in eine Schublade steckt und uns von Vornherein mit großen Vorurteilen begegnet, dann haben wir wenig Chance, einen guten Eindruck zu hinterlassen.
Tatsächlich bin ich immer wieder überrascht, dass es sich meist in wenigen Augenblicken entscheidet, ob ich einen anderen Menschen interessant finde. Mir ist klar, dass vieles davon unbewusst abläuft. Mein inneres „System“ reagiert, ohne nachzudenken auf Körpersprache, Gesichtsausdruck, Augenkontakt, Statur und Kleidung meines Gegenübers.
Spätestens bei der persönlichen Begrüßung spüre ich zunächst intuitiv, ob ich „mehr“ will, also mehr über diese Person wissen will, die Person näher kennenlernen will. Das alles passiert in Sekundenbruchteilen.
Nun ist es aber so, dass viele Menschen in unbekannten Situationen zum Beispiel nervös werden oder sehr aufgeregt sind. Dann wirkt dieser Mensch vielleicht eher angespannt oder desinteressiert auf mich. Hier kann mich also mein erster Eindruck echt täuschen.
Daher verfolge in solchen Kennenlern-Situationen mittlerweile die Strategie, ruhig eine Weile abzuwarten, bis sich die Aufregung beim Anderen (oder bei mir selbst) etwas gelegt hat. Dieses bewusste Abwarten hat sich schon oft gelohnt und zu überraschend positiven Begegnungen geführt.
Einige Menschen müssen einfach erstmal warmwerden mit dem Neuen und Unbekannten. Nicht jeder ist unter Fremden gleich offen und herzlich dabei.
Deshalb empfehle ich dir, wenn du einem anderen Menschen das Gefühl geben willst, dass er einen guten ersten Eindruck auf dich macht: Lass dir Zeit. Die ersten Sekunden sind nur das spontane Ergebnis deiner unbewusst ablaufenden Denkmuster. Nimm dir stattdessen Zeit, um in Ruhe deine Vorurteile und spontan geöffneten Schubladen im Kopf wahrzunehmen: „Der ist bestimmt der totale Angeber… Die ist bestimmt zickig… wie der schon guckt… wie die schon guckt…“ usw.
Der Trick ist dann, nicht gleich darauf zu reagieren. Frei nach dem Motto: Glaub nicht alles, was du denkst.
So kannst du üben, anderen Menschen freier und offener zu begegnen. Versuche, dich nicht gleich für oder gegen eine Person zu entscheiden. Beobachte dich und den anderen mit wohlwollenden Augen, ohne gleich zu urteilen. Höre aufmerksam zu, ohne dir sofort eine Meinung zu bilden. Bleib fluide und lass dich darauf ein, aus der Begegnung mit dem anderen etwas Spannendes über dein Gegenüber – oder über dich selbst – zu erfahren oder etwas Bestimmtes zu lernen.
Wenn du dem anderen mit tausend Vorurteilen im Kopf begegnest, dann ist das eigentlich keine echte Begegnung. Dann sieht das vielleicht so aus, als wärst du zugewandt und freundlich, aber in Wirklichkeit lässt du dich nicht richtig ein auf die mögliche Begegnung und hörst auch nicht richtig zu, was der andere da eigentlich gerade erzählt. Du nimmst alles wie durch einen Filter wahr, weil da ein kleiner Kobold in deinem Inneren sitzt, der alle Geschehnisse bewertet, kommentiert und korrigiert.
Damit eine echte Begegnung möglich wird, kannst du dich in den ersten Sekunden eines Kennenlernens bewusst darauf konzentrieren, diesen kleinen Kobold, sprich: dein inneres Plappermaul, beiseitezuschieben.
Dann ist der erste Eindruck nicht mehr das Ergebnis von irgendwelchen Aussortierungen und Abgleichungen deines kleinen Kobolds, sondern das Ergebnis eines gegenwärtigen Moments: Du bist hier und ich bin hier. Und dann kann etwas entstehen in so einem gegenwärtigen Moment: Verbindung. Kontakt. Beziehung. Es muss nichts entstehen, aber es kann. Wäre doch schön, oder?